Cover
Titel
Empathie in der Geschichtswissenschaft. Einfühlendes Verstehen der menschlichen Vergangenheit


Autor(en)
Kohut, Thomas August
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Klüners, Duisburg

Wissenschaftshistorisch lässt sich die Neuzeit als Epoche des Aufstiegs und Triumphs der Naturwissenschaften definieren. Das naturwissenschaftliche Modell – i.e. die empirisch und experimentell vorgehende Untersuchung einer inzwischen als unbeseelt begriffenen, dafür jedoch sinnlich wahrnehm- und erfassbaren Außenwelt – birgt den großen erkenntnistheoretischen Vorteil, überprüfbare Ergebnisse zu liefern. Charakteristisch für besagtes Modell ist die Tatsache, dass der Forscher dabei den Standpunkt eines äußeren Beobachters einnimmt.

Die menschliche Welt kann mithilfe dieser äußeren Perspektive nur bis zu einem gewissen Grade analysiert werden. Empirisch untersuchbare gesellschaftliche, politische und ökonomische Faktoren helfen nämlich lediglich, den äußeren Raum zu rekonstruieren, innerhalb dessen menschliches Handeln sich vollzieht. Die solches Handeln motivierende Intentionalität hingegen wird auf diese Weise nicht erklärt. Das ist, kurz gesagt, das Kardinalproblem im Prinzip aller humanwissenschaftlichen Disziplinen.1

Der sogenannte deutsche Historismus versuchte im 19. Jahrhundert, diesem Dilemma mit der Unterscheidung von „Erklären“ und „Verstehen“ zu entkommen. „Verstehen“ meint dabei den im Wesentlichen durch Introspektion, durch empathisches Hineinversetzen in das handelnde Subjekt, zu erreichenden Erkenntnisgewinn. Mit Johann Gustav Droysen hat sich einer der Väter der modernen Geschichtswissenschaft um dieses Thema verdient gemacht, dessen Gedanken wiederum einen bedeutenden Theoretiker der Empathie als Forschungsmethode, Wilhelm Dilthey, maßgeblich beeinflussten.

Umso erstaunlicher ist, dass die Geschichtswissenschaft diesseits wie jenseits des Atlantik von „Empathie“ gegenwärtig nicht viel wissen will, wie der am Williams College in Williams Town (Massachusetts) lehrende Historiker Thomas A. Kohut ernüchtert feststellt. Und dies, obwohl die Empathie in zahlreichen anderen Disziplinen – unter anderen den Neurowissenschaften, der Zoologie, der Ethologie, der Philosophie des Geistes, der Phänomenologie, der Kognitions-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie, der Psychoanalyse – aktuell „im Fokus beträchtlichen wissenschaftlichen Interesses“ steht (S. 18). Kohut macht die relative Unbestimmtheit des „nicht stringent definierten Konzept[s]“ (S.15) als eine der wesentlichen Ursachen für die Randständigkeit des Themas in seiner Disziplin aus. Die angesichts der Nachwirkungen des „Social Science“-Paradigmas in der Geschichtswissenschaft immer noch virulente Orientierung am ursprünglich naturwissenschaftlichen Faktizitäts- und Objektivitätsideal trage außerdem nicht unerheblich zur geschilderten Situation bei.

Der Begriff „empathy“, 1909 als Übersetzung des deutschen Terminus „Einfühlung“ ins Englische eingeführt (und später als „Empathie“ ins Deutsche rückübersetzt), wecke sentimentale Assoziationen, die dem an harten Fakten interessierten Historiker prinzipiell verdächtig seien (S. 15f.). Gleichwohl seien Historiker für ihre Arbeit auf ihr Einfühlungsvermögen angewiesen, das sie allerdings meist ebenso unreflektiert wie unbewusst benutzten; der Mangel an Reflektiertheit im Gebrauch der Empathie habe eine Parallele in der ausbleibenden Diskussion über Rolle und Bedeutung der Empathie für die Geschichtswissenschaft (S. 178).

Kohuts Monografie will in diesen Punkten Abhilfe schaffen. Das Interesse des Verfassers an der Empathie dürfte sich nicht zuletzt der Tatsache verdanken, dass er über eine psychoanalytische Ausbildung verfügt und somit einer jener genannten Disziplinen nahesteht, für die das Problemfeld der Einfühlung in Andere seit jeher von zentraler Bedeutung ist.

Kohuts Vater, der bekannte Psychoanalytiker Heinz Kohut (1913–1981), taucht im Buch überdies immer wieder als Gewährsmann auf, so unter anderem für die „Definition der Empathie als ,stellvertretende Introspektion‘“ (S. 117). Die Präzisierung „stellvertretend“ macht auf die Stoßrichtung aufmerksam, mit der Thomas Kohut den üblichen Bedenken der Historiker gegen die Empathie begegnen will: „Stellvertretend“ meint, dass im Prozess des wissenschaftlichen Einfühlens stets Distanz gewahrt, „die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem“ aufrechterhalten wird. Das Hineinversetzen in den Anderen – in der historischen Forschung also meist in ein Subjekt der Vergangenheit – trägt daher lediglich „,Als-ob‘-Charakter“. Empathie ist demnach nicht zu verwechseln mit „emotionale[r] Ansteckung“, „psychische[r] Verschmelzung“ oder „Identifizierung“. In den Worten Edith Steins: „,Einfühlen‘ ist nicht ,Einsfühlen‘“ (S. 68f.).

Empathie ist auch nicht gleichbedeutend mit „Mitgefühl“ (sympathy). Die Gefahr der Sentimentalität beim Einfühlen in historische Subjekte besteht demzufolge bei richtiger Anwendung nicht. Kohut ist es vielmehr darum zu tun, den rationalen Charakter der Empathie herauszustellen: Der selbstreflektierte Historiker nimmt – und zwar nur temporär – „vorsätzlich und bewusst die fremde Perspektive ein, um das Erleben eines historischen Subjekts nachzuvollziehen“ und anschließend eine Interpretation aus der distanzierten „Position des äußeren Beobachters“ heraus vorzunehmen (S. 73f.). Er gleicht damit ein wenig dem Psychoanalytiker, der zum Analysanden professionelle Distanz wahren muss, um ihn, seine Motive und Wünsche verstehen zu können (vgl. S. 173).

Die wissenschaftlich relevante Spielart der Empathie unterscheidet sich demnach von der Alltagsempathie, die stärker affektives, unmittelbareres Gepräge trägt – wiewohl auch erstere nicht komplett auf affektives Geschehen verzichten kann. Kohut beruft sich hierbei auf den Philosophen Karsten Stueber, der Ergebnisse der Neurowissenschaften als Bestätigung dafür ins Feld führt, dass beide Arten der Empathie sich immer sowohl aus affektiven wie kognitiven Anteilen zusammensetzen: So seien Spiegelneuronen einerseits dafür verantwortlich, dass Menschen Gesichtsausdrücke anderer Individuen auf kognitiver Ebene richtig zu interpretieren vermögen, andererseits führe die Aktivierung der Neuronen gleichzeitig zum Empfinden ähnlicher Gefühle, wie sie auch das Gegenüber habe (S. 142). Der insbesondere von der (aus der Philosophie des Geistes stammenden) Simulationstheorie angenommene und für Kohuts Ausführungen zentrale Unterschied zwischen der sogenannten „elementaren“ (in der alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktion sozusagen „intuitiv“ genutzten) und der „nachvollziehenden“, stärker kognitiven Empathie wäre folglich eine Frage der Gewichtung affektiver und kognitiver Anteile.

Neben der Simulationstheorie ist es vor allem die phänomenologische Tradition mit ihrer „Betonung des intersubjektiven Charakters alles Wissens“ (S. 180), die für Kohuts Definition der Empathie als Forschungsmethode von Bedeutung ist. Es sei „naiv und fehlgeleitet“, von einem unabhängigen, „autonomen wissenden Selbst“ auszugehen, worauf bereits Max Scheler hingewiesen habe. Das Individuum sei vielmehr immer eingebettet in seine Lebenswelt und eine Gemeinschaft mit anderen Individuen. Kritisch sieht Kohut allerdings die Tendenz der Phänomenologen, ihr Verständnis der Empathie „auf die direkte zwischenmenschliche Interaktion“ zu beschränken (S. 54f.). Letztlich verbinde uns tatsächlich sogar mit den Menschen der Vergangenheit „eine wechselseitige kognitive und affektive Beziehung“, was sich nicht zuletzt in der Vorliebe der Historiker für jeweils bestimmte Forschungsthemen manifestiere (S. 180 bzw. S. 135).

Neben eher theoretischen Kapiteln (unter anderem einem „Historischen Exkurs“ in Kapitel 1, der eine Diskussion unterschiedlicher Empathie-Definitionen von Vico über den Historismus und die frühe Soziologie bis hin zur Gegenwart enthält) demonstriert Kohut auch an konkreten Beispielen die Relevanz empathischen Verstehens für die geschichtswissenschaftliche Forschung (Kapitel 4). Die Einfühlung in den jeweils spezifischen „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ historischer Akteure (auf das von Reinhart Koselleck geprägte Begriffspaar rekurriert Kohut mehrfach, wenngleich Koselleck selbst laut Kohut nie von „Empathie“ gesprochen habe, vgl. S. 66) könne helfen, ex post und vom Standpunkt des äußeren Beobachters aus gefällte Urteile zu hinterfragen – so etwa die verbreitete Ansicht, die Mehrheits-SPD habe zwischen 1918 und 1920 durch ihr Bündnis mit der alten Ordnung entscheidend und schuldhaft zum späteren Scheitern der Weimarer Republik beigetragen. Kohut hingegen unterstreicht, dass im Hinblick auf den besonderen Erfahrungsraum jener Jahre die Befürchtung der Mehrheitssozialisten, auch in Deutschland könnten eine bolschewistische Revolution sowie ein Bürgerkrieg ausbrechen, nachvollziehbar sei – und aus dieser Perspektive heraus der Schulterschluss mit den Mächten des Kaiserreiches „sinnvoll und vernünftig“ erscheine (S. 89).2

Die äußere Beobachterposition besitzt laut Kohut den „Vorteil des Rückblicks, der Distanz und des geweiteten Blickwinkels“ – die empathische Betrachtung aber schütze ihrerseits vor deterministischen Deutungen, werfe ein Schlaglicht auf zeitgenössische „Ideen, Handlungen, Hoffnungen und Ängste“ und schärfe das Verständnis für die Geschichte als kontingenten, prinzipiell ergebnisoffenen Prozess sowie, in den Worten Dominick LaCapras, für „die unrealisierte[n] Möglichkeiten“ derselben (S. 178 bzw. S. 90f.).

Eine so facettenreiche Erörterung des Konzepts der Empathie bringt es mit sich, dass sich gewisse Redundanzen im Buch nicht vermeiden lassen. Auch wäre eventuell ein ausführlicheres Eingehen auf die konkrete Arbeit an der Textquelle (zum Beispiel unter Bezugnahme auf Alfred Lorenzers tiefenhermeneutische Methode) wünschenswert gewesen. Dennoch stellt Kohuts stark interdisziplinär ausgerichtetes (am Schluss übrigens dankenswerterweise durch ein Personen- und ein Sachregister ergänztes) Plädoyer für die Empathie als Erkenntnismethode der historischen Forschung einen Meilenstein dar. Einer an theoretischen Diskussionen ihrer epistemologischen Grundlagen erschreckend armen (und in solchen Belangen allem Anschein nach auch weitgehend unbekümmerten) Fachdisziplin möchte man wünschen, dass sie künftig den Anschluss an die transdisziplinären Debatten wiederfindet. Die Rezeption von Kohuts Buch könnte hierzu beitragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u. a. Martin Klüners, Das Unbewusste in Individuum und Gesellschaft. Zur Anwendbarkeit psychoanalytischer Kategorien in der Geschichtswissenschaft, in: PSYCHE – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 70 (2016), S. 644–673.
2 Ein weiteres Beispiel befasst sich mit dem auffälligen Beharren der Wannseekonferenzteilnehmer auf Fragen von Mischehen und dem Status der Mischlinge – das aber Kohut zufolge ebenfalls „restlos verständlich“ werde, wenn man sich empathisch in den Erfahrungsraum der Nationalsozialisten hineindenke, die durch das nur wenige Monate zurückliegende Ende des Euthanasieprogramms stark verunsichert gewesen seien (S. 99).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension